Novi Sad ist die zweitgrößte Stadt des Landes und eine der europäischen Kulturhauptstädte 2022. Die Einwohner:innen setzen große Hoffnungen in das Kulturförderprogramm. Eine Reportage über eine Stadt, die sich neu erfindet.
Mit dem Rücken sitze ich zur Festung Petrovaradin. Die Sonne strahlt und ich genieße den Blick über die Stadt. Ich befinde mich in Novi Sad, einer Stadt im Norden Serbiens mit etwa 340 000 Einwohner:innen. Auf den Straßen höre ich neben Serbisch auch Ungarisch und Deutsch, das vereinzelt gesprochen wird. Sogenannte „Donauschwaben” siedelten sich im letzten Jahrhundert an der ungarisch-serbischen Grenze an. Ihre Sprache und Kultur ist noch heute präsent – so wird Deutsch als Minderheitensprache anerkannt und an der Universität gelehrt. Besonders jüngere Generation aus umliegenden Dörfern ziehen zum Studieren in die Stadt. Viele lernen Deutsch mit dem Ziel, Serbien irgendwann zu verlassen und in Deutschland Arbeit zu finden. Die Stadt ist von Emigration und Migration geprägt.
Novi Sad wird von der Donau geteilt, eine Metapher, die bei der Vermarktung der Stadt zur Genüge eingesetzt wird: Anlässlich der Ernennung zur Kulturhauptstadt ist ein neues Branding vorgesehen. Dazu gehören vier Brücken, die Freedom, Rainbow, Hope und Love symbolisieren sollen. Etwas abgegriffen und inhaltsleer ist das Motiv, aber vor allem naheliegend. Die Erwartungen an Novi Sad als Kulturhauptstadt sind hoch.

Das bisherige Kulturangebot in der Stadt ist mehr als üppig: Neben dem Musikfestival EXIT existieren ein alternatives Mediencenter und die klassische Kunst-Galerie Matica Srpska. Nennenswert ist auch die Festung Petrovaradin, in der verschiedene Künstler:innen in Ateliers arbeiten. Durch die Förderung der EU-Kommission in Höhe von60 Millionen Euro wurden zahlreiche Gebäude renoviert und neue, moderne Kultureinrichtungen, wie die Svilara Kulturstation, konnten entstehen. Die ehemalige Seidenfärberei zeigt heute Kunst- und Fotografie-Ausstellungen. Auch im Programm der Kulturhauptstadt wird die Vielfalt ersichtlich: Die über 60 Programmpunkte, die über das Jahr verteilt stattfinden werden, reichen von multimedialen Ausstellungen über die Geschichte der Stadt, Tanzaufführungen, Workshops und Konzerte.
„Novi Sad wurde zurecht zur „Kulturhauptstadt Europas“ ernannt”, findet die 23-jährige Studentin Valentina Rakić. Es gebe ein Radio mit dem Programm auf Serbisch, Slowakisch und Rumänisch. Sie schwärmt vom Nationaltheater, dem ungarischen Theater, den Galerien und den alten Gebäuden der Stadt wie der Marienkirche oder der Synagoge. Auch das Stadtzentrum mit den schönen Restaurants und Cafés sowie das Gebirge Fruška Gora seien sehenswert. „Diese multikulturelle Stadt und ihre Umgebung liebe ich mit jeder Faser meines Herzens.” Valentina ist 2017 zum Studieren nach Novi Sad gezogen und hat sich auf den ersten Blick in die Stadt verliebt.

Durch den Titel der Kulturhauptstadt erhofft sich Student Goran Forgić, dass die Stadt europaweit bekannter wird. “Dass in Novi Sad mehr investiert wird, mehr Tourist:innen kommen und dass sie in die Geschichte als eine seit ihrer Gründung multiethnische Stadt geht, in der auch heute noch mehrere Nationalitäten leben. Die Stadt selbst wird aber durch die Abwanderung junger Menschen ins Ausland immer weniger ‘Multikulti’. Irgendjemand, der einen EU-Pass auf irgendwelche Weise ergattert, wandert so schnell wie möglich aus. Man hört kaum noch ungarisch auf den Straßen oder irgendeine andere Sprache, die einst in Novi Sad gesprochen wurden.” Während die jüngere Generation das Kulturförderprogramm eher als Chance begreift, wird es von älteren Bürger:innen kritisiert. Der ungarische Philosoph László Végel bezeichnet die europäische Kulturhauptstadt Novi Sad im Gespräch als „fröhliche Apokalypse“. Einer Stadt, die vor ihrem wirtschaftlichen Untergang stehe, werde auch das nicht mehr helfen können. Sein Werk „Neoplanta”, das die Geschichte der Stadt behandelt, wurde auch in das Programm aufgenommen. Das Theater Novi Sad führt es in einer neuen Version auf.

Einige Künstler vor Ort, die nicht beim Namen genannt werden wollen, stehen dem Programm kritisch gegenüber. Sie haben ein geringes Vertrauen in die Regierung. „Es wird nur Geld hin- und hergeschoben”, beklagt einer. Anders als im ehemaligen Jugoslawien sei es für freischaffende Künstler:innen inzwischen sehr schwer, den eigenen Lebensunterhalt zu finanzieren. Doch es gibt auch Künstler:innen wie Zoran Bulatović, die in dem Programm eine Chance für ihre Arbeit sehen: „Ich hoffe, dass es nach dem Jahr als Kulturhauptstadt Räume geben wird, in denen neue Galerien gebaut werden und die Kunstszene zum Leben erwacht. Die freie Szene ist sehr klein, und ohne ein angemessenes Angebot für das Publikum ist es sehr schwer, sichtbar und somit aktiv zu bleiben”, erzählt er. Nemanja Milenković, der Geschäftsführer der “Foundation Novi Sad 2022”, versichert, Künstler:innen unterstützen zu wollen. Ein Teil der Bevölkerung bleibt skeptisch.

Die Vermutung liegt nahe, dass die Ankurbelung des Tourismus im Vordergrund der Anstrengungen der Stadt steht. „Drei Tage verbringt der:die durchschnittliche Tourist:in in der Stadt,” so Tihana Putin, die Leiterin des Tourismusbüros. Mithilfe von Kooperationen zwischen dem Büro und Influencer:innen sei es möglich gewesen, die Stadt vor allem auf Social Media präsent zu machen, erzählt sie, wobei ein gewisser Stolz in ihrer Stimme durchklingt. Das übergeordnete Ziel sei es aber, Kunst für alle zugänglich zu machen, wiederholen die Kulturvertreter:innen der Stadt. Erste Anläufe wurden gestartet. So gibt es in der Galerie „Matica Srpska” einen barrierefreien Raum fürblinde und sehbehinderte Personen. Durch Gegenstände, Geruch und eineTonbandaufnahme wird Kunst mit anderen Sinnen vermittelt.
Aufgrund der Pandemie wurde das Programm um ein Jahr verschoben. Jetzt darf nichtsmehr schiefgehen. Novi Sad hat die einmalige Gelegenheit, europaweit bekannt zu werden und aus dem Schatten der Hauptstadt Belgrad hervorzutreten. Der Titel der „Europäischen Kulturhauptstadt” allein wird die Abwanderung der Jugend nach Belgrad oder in westeuropäische Länder aufgrund der schlechten Jobaussichten vor Ort allerdings kaum verhindern. Aber er bietet zumindest die Hoffnung, dass sich etwas ändert. Ob Novi Sad der Aufbruch in eine moderne Kultur-Metropole gelingt, lässt sich wahrscheinlich erst Jahre später beurteilen. Einen mehrtätigen Besuch hat die liebenswürdige, kulturreiche Stadt an der Donau auf jeden Fall verdient.
von Dijana Kolak
Anmerkungen: Erstveröffentlicht wurde der Artikel in der 5. Ausgabe des OLDSCHOOL-Magazins. Lektor: Julius Tamm